markus vahlefeld mal eben kurz die welt retten die deutschen zwischen größenwahn und selbstverleugnung mit einem vorwort von henryk m. broder
vorwort von henryk m. broder einführung 1. der deutsche komplex die wiedergutwerdung der blick in den abgrund 2. die blase, in der wir leben geschichte als besserungsanstalt it’s the demography, stupid! 3. das linke denken universalienstreit reloaded aus der liebe zu gott wird die liebe zum staat 4. die große öffnung unterlassung als politik das traumpaar: asyl heiratet einwanderung 5. der sound der krise die opfer die lügen 6. eurabien faszination islam europa und die jungen männer anmerkungen text und gestaltung: © 2017 markus vahlefeld aschenputtel publishing postfach 19 04 50 50501 köln isbn: 978-3-7450-8376-7 printed in germany bibliografische information der deutschen national-bibliothek die deutsche nationalbibliothek verzeichnet diese publikation in der deutschen nationalbibliografie; detaillierte bibliografische daten sind im internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 8 16 24 45 60 72 88 108 126 139 158 173 198 213 232
vorwort henryk m. broder
vorwort vorwort willkommen, bienvenue, welcome! im cabaret an der spree geht die post ab man könnte den inhalt dieses buches in einem satz des baye- rischen schriftstellers, religionskritikers und nervenarztes oskar panizza (1853-1921) zusammenfassen: „der wahn- sinn, wenn er epidemisch wird, heißt vernunft.“ oder noch knapper: „willkommen im irrenhaus deutschland!“ will- kommen in einem land, dessen kinderlose kanzlerin von ihrem volk „mutti“ gerufen wird. willkommen in einem land, in dem „willkommenskultur“ als abschaffung der nationalen souveränität praktiziert wird. willkommen in einem land, dessen außenminister sich in israel mit „regie- rungskritikern“ und „vertretern der zivilgesellschaft“ trifft, der aber als wirtschaftsminister nichts vergleichbares unter- nommen hat, als er den iran besuchte. willkommen in einem land, dessen einwohner keine deutschen, sondern nur noch „europäer“ sein wollen. willkommen in einem land, das der ganzen welt ein vorbild sein will: bei der müllentsorgung, beim klimaschutz, bei der energiewende, die bis 2050 vollendet sein soll, zugleich mit der reform der gymnasialen oberstufe. in dem eine zwangsge- bühr als „demokratie-abgabe“, als „ein beitrag für die funk- tionsfähigkeit unseres staatswesens und unserer gesellschaft“ deklariert wird. in dem allen ernstes darüber debattiert wird, ob sich die gesellschaft den zuwanderern „öffnen“ soll, oder die zuwanderer die regeln der gesellschaft annehmen sollen. willkommen! herzlich willkommen! und nochmal will- kommen, bienvenue, welcome! im cabaret an der spree geht die post ab. es gibt einige gute und sehr gute texte über die geistig-morali- sche wende, die von der kanzlerin zum politischen programm erhoben wurde. dieser hier – ich meine das buch von markus vahlefeld – ist der beste. ich sage das mit einem leichten anflug von neid, denn ich habe mich ebenfalls mit dem thema ausgiebig beschäftigt, wenn auch nicht so gründlich und so radikal wie vahlefeld. ich habe phänomene beschrieben, um sie festzuhalten, damit sie nicht im abgrund der geschichte verschwinden, vahlefeld nimmt sie auseinander, bis nur kleine häufchen von anmaßung, elend und ratlosigkeit übrig bleiben. ich bin ein chronist, vahlefeld ist der analytiker einer übersättigten, wohlstandsverwahrlosten gesellschaft, die ihren eigenen untergang herbeisehnt. er setzt damit die arbeit von eike geisel (1945-1997) fort, der bereits kurz nach dem fall der mauer vor der „wieder- gutwerdung der deutschen“ bzw. deutschlands gewarnt hat. inzwischen ist deutschland „ökologischer, weiblicher, offener, föderaler“ und „weniger militärisch“ geworden (bernd ulrich, stellvertretender chefredakteur der zeit), als es je ein land, eine gesellschaft in der geschichte der menschheit war. wir sind, sagt ulrich, „ein besseres volk“ geworden, und das „ist doch etwas großartiges“. ein „lummerland“, wie in einem märchen von michael ende, das sich aber nur dem erschließt, der das „tal der dämmerung“ unter schmerzen durchquert hat. und der „scheinriese“, der mit zunehmender entfernung immer größer und mächtiger wird, ist die vergangenheit. es handelt sich nicht nur um ein seltsames phänomen, das allen regeln der optik und der physik widerspricht, sondern um eine wahrnehmungsstörung, die so weit verbreitet ist, dass sie nicht mehr als störung empfunden wird. in einer gesell- 8 9
vorwort vorwort schaft von hysterikern würden nur die nicht-hysteriker aus der reihe fallen. um es mit johannes gross (1932-1999) zu sagen: „je länger das dritte reich tot ist, umso stärker wird der widerstand gegen hitler und die seinen.“ aber auch das interesse für den führer, seine frauen, seine generäle, seine krankheiten, seine hobbies, seine tierliebe, seine unter- hosen samt inhalt, seine ess- und schlafgewohnheiten, seine homo- oder überhaupt sexualität, seine postkarten und seine kammerdiener. während das langzeitgedächtnis der deutschen immer besser funktioniert und die enkel sich an ereignisse erinnern können, die den großeltern entfallen waren, lässt das kurzzeitge- dächtnis immer weiter nach. ich staune immer wieder, was die „hart arbeitenden menschen“, an die sich die politiker aller parteien wenden, den politikern so alles durchgehen lassen, als gäbe es kein internet und kein google. martin schulz, zum beispiel, der große hoffnungsträger der spd, hat noch im mai 2016 in einem interview mit der welt gesagt: „mein platz ist in brüssel.“ seine agenda sei „so voll“, dass er keine zeit habe, über seine zukunft nachzudenken. dabei hat schulz während seiner fünf jahre als präsident des europaparlaments nichts anderes getan, als sich selbst zu protegieren. erst wollte er seinen besten freund jean-claude juncker beerben und präsident der eu-kommission werden, und als das nicht geklappt hat, setzte er himmel und hölle in bewe- gung, um wenigstens präsident des europaparlaments bleiben zu können. erst als klar wurde, dass ihm das parlament die gefolgschaft verweigern würde, beschloss schulz, kanzler der bundesrepublik deutschland zu werden. einfach nach würselen zurück zu gehen und jeden tag im „aquana“- spaßbad ein paar runden zu drehen, kam für ihn nicht in frage. das ist menschlich verständlich; ich wundere mich nur, dass er darauf nicht angesprochen wird. schulz’ durchmarsch an die spitze der partei muss etwas mit der extrem dünnen personaldecke der spd zu tun haben, die auch ein scheues reh wie katarina barley und einen grobian wie ralf stegner in spitzenpositionen befördert hat. schulz wird nicht zum kanzler gewählt werden. darauf wette ich meine 1001 schneekugeln. das hat weniger mit seinen führungsqualitäten zu tun als mit einem „missverständnis“, das vahlefeld so beschreibt: „ganz offenkundig weigern sich die deutschen nicht, einem führer zu folgen, sondern sie haben nur angst, dass es nochmal der falsche sein könnte.“ angela merkel hat sich als die richtige erwiesen. innen borstig, außen flauschig. und jederzeit bereit, das gegenteil von dem zu tun, was sie gestern gesagt hat. ende august 2015 verkündete die kanzlerin, die „bewältigung des flüchtlingsproblems“ sei „eine nationale aufgabe, die jeden angeht“, bzw. „eine große, nationale herausforderung“, an der „jeder seinen anteil“ übernehmen müsse. ende april 2017 beriet die kanzlerin mit den ministerpräsidenten der länder, wie die abschiebung abgelehnter asylbewerber effizi- enter gestaltet werden könnte, u.a. durch den einsatz von frei- willigen helfern. dafür sei eine „nationale kraftanstrengung“ vonnöten. wie schnell sich doch die nationalen prioritäten ändern. früher war es die „endlösung“, der die „wiedergut- machung“ folgte. gestern hieß es „refugees welcome!“, heute „refugees go home!“ ich finde, statt beamte des mittleren und des gehobenen dienstes zu requirieren, könnte man die vielen 10 11
einführung
einführung einführung wie einsam deutschland inzwischen dasteht, machte ein bild- witz deutlich, der zum mitte märz 2017 erfolgten antritts- besuch der deutschen bundeskanzlerin beim us-präsidenten donald trump die runde in den sozialen netzwerken machte. oben ein bild angela merkels, unten ein bild donald trumps mit dem satz: „der führer der freien welt besucht donald trump“. damit waren die verhältnisse, wie sie in europa seit dem zweiten weltkrieg geherrscht haben, auf den kopf gestellt. die aufgabe, die deutschland niemals hätte beanspruchen dürfen, ist ihm unter angela merkel wie zufällig in den schoß gefallen: der hegemon einer auserwählten völkergemeinschaft zu sein, die sich als frei, liberal und friedliebend definiert, während die bisherige schutzmacht des freien westens auf die rolle eines vasallen geschrumpft ist. dabei ist angela merkel zu einer ritterin der allertraurigsten gestalt geworden, die von kanzleramtsminister peter altmaier als sancho panza begleitet wird. in den 12 jahren kanzler- schaft merkels ist wirklich alles, auf dem die letzten jahrzehnte frieden und ordnung ruhten, weggebrochen. im osten wird europa inzwischen von einem machthungrigen wladimir putin bedroht, der russland wieder zu einer eurasischen großmacht von wladiwostok bis paris aufbauen will und vor kriegen und destabilisierung der nachbarländer nicht zurückschreckt. im süden verhindert eine in den islamischen fanatismus abglei- tende und immer autokratischer regierte türkei die ausdeh- nung derjenigen werte, die für europa bisher unverhandelbar schienen: religionsfreiheit, meinungsfreiheit und der schutz des individuums vor den zumutungen staatlicher repression. und glaubt man den deutschen leitmedien, so hat sich inzwi- schen auch im westen mit donald trump ein despotischer antidemokrat installiert, der die schwächung der eu voran- treibt. was wie eine entwicklung erscheint, die über die eu und europa hereingebrochen ist, hat jedoch sehr viel mit der entwicklung eben dieser eu zu tun. die weigerung, den schutz der außengrenzen sicherzustellen, den islamischen fanatismus wirksam zu bekämpfen und die militärausgaben den verän- derten bedingungen anzupassen, hat zwar dazu geführt, dass die eu zu einer moralischen supermacht werden konnte, sie aber als realpolitische kraft zu einem schwächling verkommen ist. das desaster um den euro, das abgleiten der europäischen mittelmeerländer ins wirtschaftliche abseits, der eu-ausstieg der briten und schließlich die aufwertung deutschlands als letzte übriggebliebene hegemonialmacht der eu sind entwick- lungen, die nicht unbedingt politische stabilität versprechen. und im mittelpunkt dieser entwicklung steht dieses kleine durchgangsland in der mitte europas mit seiner kanzlerin angela merkel. das gegen alle diplomatischen gepflogenheiten verstoßende vorgehen der bundesregierung, im us-wahlkampf 2016 nicht einmal den kontakt mit dem späteren wahlsieger donald trump zu suchen, und sich stattdessen ausschließlich auf einen wahlsieg hillary clintons zu kaprizieren, hat die rolle sowohl deutschlands als auch der eu auf der anderen seite des atlantiks nicht gerade gestärkt. die äußerungen, die angela merkel ihrem damaligen außenminister und späteren bundespräsidenten frank-walter steinmeier erlaubt hatte – er weigerte sich, donald trump zum wahlsieg zu gratulieren und nannte ihn einen „hassprediger“ –, bleiben in den usa sicher unvergessen. 16 17
einführung einführung auch die in merkels kanzlerschaft fallende zurückstufung der türkei von einem beitrittskandidaten zu einem privilegierten partnerland der eu und ihre im zuge der „flüchtlingskrise“ dann hektisch erfolgte zurücknahme mit anschließenden milli- ardenzahlungen und der aufwertung des despoten erdogan haben den für viele partnerländer merkwürdigen sonderweg, den deutschland mit der eigenen grenzöffnung eingeschlagen hatte, nicht gerade verständlicher erscheinen lassen. im gegen- teil: man darf davon ausgehen, dass die hilflosigkeit, mit der angela merkel sich weigerte, die souveränität des eigenen landes zu verteidigen, der eu-abstimmung in großbritannien den entscheidenden pendelschlag versetzt und das votum für den brexit entschieden hat. noch nie stand deutschland so einsam da wie unter angela merkel. vor allem die deutschen leitmedien haben es sich zur aufgabe gemacht, alle, die nicht mit dem gleichen „humanitären impe- rativ“ wie die deutsche bundeskanzlerin kommen, zu den wahren feinden der demokratie zu erklären. im zuge der „flüchtlingskrise“ hat sich eine moralische hochnäsigkeit herausgebildet, die man als neues deutsches selbstwertgefühl bezeichnen könnte. statt diplomatischer zurückhaltung und sachlichkeit ist in den medien ein ton eingezogen, den die politische klasse nur zu gerne befeuert. polen, ungarn, öster- reich, großbritannien, die usa, die türkei, russland – überall sind die entwicklungen „ganz bedenklich“. deutschland, so hat man den eindruck, ist das letzte aufrechte land dieses erdenrunds, das die liberalen werte noch zu verteidigen imstande ist. der hochmut, die heuchelei und die hybris, die dieses neue deutsche selbstwertgefühl begleiten, sind das grundrauschen hinter dem vorliegenden essay. es gibt ein progressives denken, das sich fortschrittlich und linksliberal nennt und das sich in den 1970er jahren anschickte, den gesamten freien westen zu kapern. ob in der politik, in den medien oder in den universitäten: es herrscht eine denkungsart vor, die in ihrer einseitigkeit eine linke blase geschaffen hat, die platzen zu lassen schmerzhaft aber notwendig erscheint. was sich in deutschland unter dem begriff alternativlos entwickelt hat, ist ja nichts anderes als die abschaffung eines sachlichen und vernünftigen diskurses, der sich aus politik wie auch geistes- und sozialwissenschaften verabschiedet hat. alternativlosigkeit kann nur hergestellt werden, indem der argumentative gegner aus dem diskurs ausgeschlossen wird. dazu wurde ein bündel an verbotsschil- dern aufgestellt, und wer dieses nicht anerkennt, muss mit moralischer diskreditierung rechnen. dieses phänomen ist nicht auf deutschland beschränkt, sondern hat sich aller freien gesellschaften bemächtigt. während jedoch in den meisten anderen gesellschaften des westens inzwischen ein rollback eingesetzt hat, ist dieser in deutschland als verspäteter nation noch unterentwickelt. die verbotsschilder, die in deutschland aufgestellt wurden, sind wirkmächtiger als in vielen anderen ländern, was mit dem umgang der deutschen mit ihrer geschichte und einigen anderen eigenarten der deutschen zu tun hat. dass das globale linke denken in deutschland mit der „flüchtlingskrise“ zu einer politik geführt hat, zu der es dann keine opposition mehr geben durfte, hat zwar zu der größten krise deutschlands nach 1945 geführt, gleichzeitig aber auch wie in einem brenn- glas deutlich werden lassen, wie selbstzerstörerisch, autoritär und aggressiv dieses globale linke denken sich gebärdet. unter angela merkel ist deutschland wie zu einem laborversuch 18 19
geworden, linkem denken die regierungsverantwortung zu übertragen. und dieser versuch ist fulminant gescheitert. dass die linke blase platzt, wird allenthalben deutlich. statt klare analysen und stringente handlungsvorschläge zu unter- breiten, hat sich über die linken ein mehltau aus langeweile und borniertheit gelegt. statt mit stichhaltigen argumenten kann nur noch die vermeintlich höhere moral ins feld geführt werden, die den politischen gegner nicht zu widerlegen, sondern nur zu erniedrigen imstande ist. nicht mehr rich- tungsstreit wird als demokratische tugend gesehen, sondern der bekenntniszwang. politische heilsgewissheit, wirklich- keitsüberlegene besserwisserei, penetranter moralismus und eifernde intoleranz sind die ingredienzien, mit denen der bekenntniszwang aufgekocht wird. das linke denken hat das ausgleichende demokratische prinzip des yin und yang so restlos verraten, dass es sich selbst nicht nur schwer beschädigt, sondern in die sackgasse des politi- schen kitsches manövriert hat. das linke denken braucht jedoch die falschen sicherheiten, denen rechtes denken gerne aufsitzt, um nicht im orkus der falschen unsicherheiten zu verschwinden. dass die alten kategorien von „rechts“ und von „links“ überholt sein sollen, kann ja nur behaupten, wer dem ausschluss des rechten denkens aus dem demokratischen diskurs bereits auf den leim gegangen ist. der rollback der falschen sicherheiten, wie wir ihn momentan erleben, ist ja auch eine reaktion auf die übertreibungen, mit denen das linke denken sich als alternativlos gefeiert hat. aber jeder guten party folgt ein schmerzhafter kater.
„das ist der größte vorwurf an die deutschen: dass sie trotz ihrer intelligenz und trotz ihres mutes immer die macht anhimmeln.“ winston churchill 1 der deutsche komplex
der deutsche komplex die widergutwerdung was war ab august 2015 nur in die deutschen gefahren? dem britischen politologen prof. anthony glees kam es bereits anfang september 2015 vor, als habe sich deutschland in einen „hippie-staat, der nur von gefühlen geleitet wird“, verwandelt. die wahrnehmung, deutschland gehe in der flüchtlingskrise „undemokratisch“ vor und halte sich nicht an eu-regeln, habe, so glees, in großbritannien den eindruck entstehen lassen, die deutschen hätten verstand und hirn verloren. sein abschließendes urteil: „sehr unsympathisch“. und das war britisch höflich formuliert.* auf dem politischen und diplomatischen parkett eher kopf- schütteln hervorzurufen, war vielen deutschen und vor allem der deutschen bundeskanzlerin angela merkel in dieser zeit offensichtlich gleichgültig. die wichtigsten partner deutsch- lands – in europa frankreich, in der welt die usa – machten zwar gute miene zum spiel merkels, aber niemand dachte auch nur im entferntesten daran, ihr gleichzuziehen. zwar sicherte auch us-präsident barack obama angela merkel „unterstüt- zung“ in der flüchtlingspolitik zu und lobte sie für ihren mut, aber mehr als bauchpinselei war dies nicht. für das jahr 2016 nahm sich obama vor, immerhin 10.000 syrische flüchtlinge in die usa einreisen zu lassen, während an den deutschen grenzen geschätzte 1,5 millionen menschen, die den flücht- lingsstatus begehrten, ankamen. * deutschlandfunk vom 8.9.2015 der deutsche komplex die begeisterungswelle so vieler deutscher produzierte will- kommensbilder an den bahnhöfen mit zumeist jungen deut- schen frauen, die den ankommenden, zumeist jungen arabi- schen männern wie popstars zuklatschten und teddybären in die menge warfen, bis die professionellen helferorganisati- onen wegen eines zuviels an plüschtieren baten, von spielsa- chen abzusehen und eher praktisch notwendiges wie kleidung und schlafsäcke zur verfügung zu stellen. dabei war es bisher deutsche gepflogenheit, dass, immer wenn die deutschen – wie z.b. bei fußballweltmeisterschaften – von kollektiven begeisterungswellen heimgesucht werden, die linken sich als mahner hervortun und vor nationalismus und chauvinismus warnen. im august 2015 jedoch galt dieses gesetz als aufgehoben. vor allem von den linken wurde diese kollektive begeisterung, die so viele deutsche seelen enthusias- miert hatte, noch befeuert. unvergessen die aussage der vorsit- zenden der bundestagsfraktion von bündnis90/die grünen, katrin göring-eckardt: „wir kriegen jetzt plötzlich menschen geschenkt.“* angela merkel, die große zauderin und zögerin, die jedes ihrer fernsehbilder akribisch zu planen und kontrollieren versucht und lieber im vagen bleibt, solange sie nicht die stim- mungen im volk und die strömungen in den medien ausge- lotet zu haben meint, war bis dahin eher dadurch aufgefallen, dass sie um flüchtlinge und flüchtlingsheime einen großen bogen machte. als schließlich alle medien, von den öffent- lich-rechtlichen sendeanstalten über bild und die zeit bis hin zum spiegel, sich zu sprachrohren dieser flüchtlings- * 8.11.2015 bei der aussprache zum ekd-ratsbericht vor der synode in bremen 24 25
der deutsche komplex der deutsche komplex begeisterung gemacht hatten, wollte auch die instinktsichere kanzlerin nicht weiter abseits stehen und setzte sich an die spitze einer bewegung, die keine parlamentarische opposition im bundestag mehr kannte. von ganz links bis zur ehemals konservativen cdu hatte sich ein parteienbündnis gebildet, das dem „sommermärchen“ 2015 seine politische legitima- tion versprach. egal wie laut pegida in dresden auch demonstriert und „wir sind das volk“ gerufen haben mag, die tatsache, dass bis silvester 2015 eine sehr erhebliche zahl deutscher der politik blind vertraute und folgte, sollte nicht ignoriert werden. und neben den torheiten und dem politischen kitsch, der in diesen tagen produziert wurde, muss man anerkennen, dass sich die deutschen durch die gigantische aufgabe der betreuung und unterbringung von hunderttausenden fremder nicht aus der ruhe bringen ließen. die gemeindevorsteher, bürgermeister und kreisvorsitzenden im verbund mit ihren tausenden helfern mutierten im september 2015 zu den wahren helden eines deutschlands, das sich trotz ausnahmezustands zumin- dest organisatorisch und menschlich um die ankommenden vorbildlich zu kümmern versuchte. all die helfer und verant- wortlichen auf unterer ebene waren die sonne, in deren mora- lischem licht die bundespolitiker badeten. die gutmeinenden deutschen, so schien es, waren endlich bei sich selbst angekommen und wie befreit angesichts ihrer eigenen willkommensleistungen. dass eine politik – jahre- lang den bürgerkrieg in syrien und die syrischen flüchtlinge in türkischen flüchtlingslagern sträflich ignorierend – diese zustände, die eine deutsche helferleistung erst notwendig machten, sehenden auges herbeigeführt hatte, ohne sich jedoch bis heute dafür je verantworten zu müssen, mag ein hinweis auf eine déformation psychologique der deutschen sein, die man auch als helfersyndrom bezeichnen kann. auf wikipedia heißt es dazu: „laut modell hat ein vom helfer- syndrom betroffener ein schwaches selbstwertgefühl und ist auf seine helferrolle fixiert; das helfen bzw. gebraucht- werden-wollen wird zur sucht. dabei versucht er ein ideal zu verkörpern, das er selbst bei seinen eltern oder generell in seiner kindheit vermisst hat. seine hilfsbereitschaft geht bis zur selbstschädigung und vernachlässigung von familie und partnerschaft; dabei übersieht oder unterschätzt er die grenzen des möglichen und ignoriert auch die frage, ob seine hilfe überhaupt erwünscht oder sinnvoll ist.“ dass menschen, die unter einem helfersyndrom leiden, mit ihrem handeln oftmals krankheitszustände bei den von ihnen betreuten personen willentlich herbeiführen, um ihnen mit noch mehr hingabe helfen zu können, sei zumindest der vollständigkeit halber angefügt. bereits in der zweiten septemberwoche 2015 kabelten die helfer und verantwortlichen vor ort an ihre landeshaupt- städte und nach berlin, dass kräfte und mittel schwänden und das limit erreicht sei. die bundespolitik entschied dennoch, die grenzen offen zu lassen, und nahm damit die deutschen sekun- därtugenden, die sich durch pünktlichkeit, disziplin, organi- sationstalent und opferbereitschaft auszeichnen, in geiselhaft, um zustände zu prolongieren, die täglich unmenschlicher wurden. der israelisch-amerikanische autor tuvia tenenbom, der 2016 flüchtlingsunterkünfte besuchte und über die zustände eher schockiert war, fasste diese organisationsleis- tung der deutschen mit einem sehr bösen und dennoch tref- fenden kommentar zusammen: „das einzige, was an dieser ganzen willkommenskultur-pr-maschinerie wie geschmiert 26 27
der deutsche komplex der deutsche komplex funktioniert, ist das, was auch im letzten jahrhundert prima geklappt hat: die perfekte organisation der transporte.“* rechtsradikale lager schoben, wenn nicht sogar als faschisten oder nazis verunglimpften. siebzig jahre nach kriegsende haben die deutschen wieder eine groß angelegte kollektive begeisterung an den tag gelegt. und wieder haben sie die autoritäre rückseite dieser begeiste- rung ignoriert. der kollektive meinungsdruck, offene grenzen toll finden zu müssen, wurde jeden tag höher geschraubt, indem die gegner der offenen grenzen verächtlich gemacht und aus dem demokratischen diskurs ausgeschlossen wurden. im inland wie auch im ausland. das erste opfer kollektiver besessenheit ist immer der andersdenkende. ganz wie in kriegszeiten erschien es dem politischen establish- ment wichtiger, geschlossenheit und moralische überlegenheit zu präsentieren, als differierende meinungen zuzulassen. wenn es jedoch die aufgabe einer repräsentativen demokratie ist, den – wie es der politikwissenschaftler ernst fraenkel formu- lierte – „empirisch vorfindbaren volkswillen zu veredeln“, dann hat das politische establishment in deutschland diese seine hoheitsaufgabe sträflich vernachlässigt. denn der empi- risch vorfindbare volkswille war ja ganz im gegensatz zum doch recht einheitlichen willen der medienschaffenden nie so eindeutig, wie es das politische establishment gerne gehabt hätte. statt der veredelung des volkswillens, der sich in vielen empirisch vorfindbaren wortmeldungen und demonstrati- onen kundtat, wurde er ins verächtliche gezogen. kritiker der unkontrollierten einwanderung sahen sich statt argumenten mit moralischen vorwürfen konfrontiert, die sie sofort ins * tuvia tenenbom, allein unter flüchtlingen, suhrkamp 2017 das instrument der nazifizierung des politischen gegners wurde in der tat das deutsche phänomen des „flüchtlings- märchens“ 2015 für jeden, der nicht in die begeisterung mit einstimmte. endlich konnten die deutschen beweisen, dass sie den nationalsozialismus restlos überwunden hatten, während die andersmeinenden zu wiedergängern von goebbels und himmler mutierten. um den pöbelnden mob von links, der auf anti-ttip-demons- trationen lebensgroße guillotinen feilbot, wurde kein großes aufhebens gemacht, während der rechte mob, der auf einer pegida-demonstration einen armgroßen galgen zusammenge- zimmert hatte, zum finalen angriff auf die demokratie hochge- jazzt wurde. das beliebteste hobby der gutmeinenden wurde die verachtung für den politischen gegner, der vom wutbürger – ein begriff, der bei den protesten gegen stuttgart21 einige jahre vorher noch voll stiller hochachtung für die politische reife der protestierenden benutzt wurde – kurzerhand zum dunkeldeutschen pack1) erklärt wurde. und es gab vor allem im osten deutschlands verstörende bilder von abgebrannten häusern, die als flüchtlingsunter- künfte hätten dienen sollen, von lautstark pöbelnden bürgern und bedrohlichen zusammenrottungen vor bussen mit flücht- lingen. diesen volkswillen veredeln zu wollen, wäre sicher ein hilfloses unterfangen geworden. die fassungslosigkeit über die regierungspolitik, die sich bis zum hass steigerte, wurde jedoch zum anlass genommen, jeden gegner der regierungs- politik mit diesen unmenschlichkeiten zu assoziieren. und die saat der spaltung ging allzu schnell auf. 28 29
der deutsche komplex der deutsche komplex was jedoch am meisten überraschte, waren die elogen, die von den seriösesten deutschen journalisten auf die bundeskanz- lerin verfasst wurden. zur „kanzlerin der herzen“* wurde sie ausgerufen, und im bieterwettstreit um die wärmste und schönste herzjesu-überschrift titelte die süddeutsche über die kanzlerin „ich habe aus meinem herzen gesprochen“**. zur neuen lutherfigur wurde sie stilisiert, die dem urdeutschen satz des „hier steh ich nun, ich kann nicht anders“ neues leben einhauchte.*** merkels eher schlichte durchhalteparole vom „wir schaffen das!“ wurde für georg diez auf spiegel online am 25. oktober 2015 der „anfang der politik, der grund, warum zusammenleben möglich ist.“ dieses tröten ins pathe- tisch-überhöhende horn, in dem politik zu einem glaubens- satz, zu einer weihehandlung am ideal verklärt wird, folgte der schlechtesten aller deutschen traditionen, nämlich poli- tiker zu erlöserfiguren hinbiegen zu müssen, um ihnen dann bedingungslos folgen zu können. was theodor w. adorno den sehr deutschen pathos des absoluten nannte, führte 2015 zur religionisierung der politik. zum „merkeldankfest“. es hatte etwas von nordkorea, als eine recht hochkarätig besetzte abordnung von kulturschaffenden am weltfrauentag rote rosen ins kanzleramt trug, um sich bei angela merkel für ihr „wir schaffen das“ zu bedanken. der vielleicht größte unterschied zu nordkoreanischen verhältnissen dabei: im deutschland seit der großen öffnung machten die menschen es freiwillig. das misstrauen gegen den nationalstaat und jede form des patriotismus hatte im deutschland des jahres 2015 endlich und flächendeckend den traum entstehen lassen, nicht mehr in einem begrenzten nationalstaat oder einem gebilde wie der eu – das sich aus nationalstaaten zusammensetzt – leben zu müssen, sondern in einer „welt jenseits der zuordnungen“2), in einer irdischen gemeinschaft mit allen menschen dieser erde, die man nun nur noch glücklich willkommen heißen durfte. die bis dato nur von linksextremen splittergruppen zu hörenden slogans „no borders“ und „kein mensch ist illegal“ wurden unter einer cdu-kanzlerin zur offiziellen regierungspolitik. denker wie rüdiger safranski, jörg baberowski oder peter sloterdijk, der sich mit dem satz zitieren ließ: „es gibt keine moralische pflicht zur selbstzerstörung“*, fanden sich sehr schnell auf der falschen seite der macht, nämlich der rechtspo- pulistischen macht, wieder. denn die moralische pflicht, wenn nicht zur selbstzerstörung, dann zumindest zur begeisterten selbstaufgabe, war das gebot der stunde. es änderte sich erst mit den aufrüttelnden silvesterereignissen 2015/16 in köln und vielen anderen deutschen städten. zu offensichtlich war geworden, dass diese pflicht zur selbstaufgabe, dieser suizi- dale hang der deutschen, nicht nur symbolisch und als intel- lektuelle provokation gemeint war, sondern wirklich gefahr lief, deutschland so grundlegend zu verändern, dass die alten koordinaten von rechtsfrieden, sicherheitsgefühl, sozialstaat und öffentlicher lebenskultur wegzubrechen drohten. die faz vom 8.10.2015 süddeutsche zeitung vom 7.10.2015 * ** *** stephan detjen im deutschlandfunk 5.10.2015 * cicero februar 2016 30 31
der deutsche komplex der deutsche komplex ersten opfer von gewalttätigen umwälzungen sind immer die frauen – und das ist nicht symbolisch gemeint. diskussionen über das deutsche, das deutschsein, deutsche werte und deutsche leitkultur waren seit den 70er jahren in deutschland nur schwer möglich und wurden regelmäßig von den führern der linken meinungselite in den redaktionen, universitäten und parteien unterbunden. man wolle, so hieß es, keiner positiven besetzung eines neuen deutschen patriotismus nachhelfen, denn deutscher patriotismus verbiete sich spätes- tens seit auschwitz. die meist nur achselzuckenden liberalen kräfte, die sich angewöhnt hatten, indifferenz als befreiung zu verkaufen, und die intellektuell und analytisch schwa- chen konservativen in deutschland ließen aus angst, in die rechtslastige ecke gestellt zu werden, ein fulminantes vakuum entstehen. dieses begannen nun die linken ewigmorgigen mit schaum vor dem mund und wilder aggression einzuhegen und alle, die sich noch trauten, einlass zu begehren, als ewig- gestrige zu beschimpfen. die positive besetzung des deutsch- seins wurde im öffentlichen diskurs mit so vielen stopp- und verbotsschildern belegt, dass es für das politische und mediale establishment das geschmeidigste war, deutschsein maximal als „negation zum nationalsozialismus“ (s. nächstes kapitel) zu definieren. alles andere sei schon die fratze eines neuen zerstörerischen nationalismus. nun ist der traum von der überwindung der nationalstaaten zur one world ein traum, den weltweit die meisten linken träumen, und er ist mitnichten ein deutsches phänomen. auch sind selbsthass und lust an der anklage der weißen kultur in linken kreisen generell weit verbreitet. da unterscheiden sich die populistische linke in england, in frankreich, in deutsch- land und inzwischen auch in den usa nur marginal. was den deutschen ihr nazi-feindbild, ist den engländern und fran- zosen ihr koloniales erbe und den us-amerikanern die rassen- trennung sowie der umgang mit der indigenen bevölkerung. die diskurse in den fortschrittlichen intellektuellen kreisen des westens ähneln sich auf frappierende weise. sie drehen sich um schuld und wiedergutmachung und die gebote, die daraus erwachsen. donald trump und brexit waren dann sehr eindeutige antworten der amerikanischen und der britischen wähler auf diesen selbstanklage-fetisch der linken, den immer mehr menschen als zerstörung der gewachsenen kultur verstehen, um die aufgabe der staatlichen souveränität zugunsten eines identitätslosen weltgebildes voranzutreiben. donald trumps „america first“ war ja eine sehr deutliche absage daran gewesen, dass politiker statt nationale interessen irgendwelche undurchsichtigen weltinteressen zu vertreten hätten. es ist ja auch einer der nicht auflösbaren widersprüche linken denkens: das aufreißen gewachsener traditionen hilft vornehmlich, ein merkantiles nützlichkeitsdenken zu instal- lieren, das ebenfalls traditionen nur als störfaktor wahrnimmt. die linke vision von der one world spielt vor allem multinati- onalen konzernen in die hände und verpflichtet die menschen darauf, sich in ein identitätsloses effizienzheer einzugliedern, das weltweit nur noch den maßstab der ausbeutbaren bildung zu kennen scheint. dass sich die linken damit zu bütteln des grenzenlosen kapitals gemacht haben, ist ihnen viel zu spät aufgefallen, egal wie laut sie gegen freihandelsabkommen wie ttip auch demonstrierten. freiheit galt den linken vornehmlich als zerstörung des gewachsenen, ohne sich die mühe machen zu müssen, auszu- 32 33